Nachruf Rainer Lachmann

Ein letzter Neujahrsgruß von Rainer im Januar 2016 an die Autorin dieses Textes:

Ich borge mir von den Juden den Ausdruck „Rosch ha Schanah“ = Haupt des Jahres. Damit ist der erste Tag des jüdischen Kalenderjahres gemeint, und daher – übertragen – Neujahrstag für die Christen. Die haben aber in Europa daraus den „guten Rutsch“ gemacht. Eigentlich gar nicht so verkehrt in dieser kalten Januarwoche!

Alle Liebe, Gute – und überhaupt –  für die Zukunft oder fürs erste 2016.

Rainer

Das war „unser“ Rainer: ein humorvoller Weltendenker und –umfasser, ein offener Geist, der alle umarmte. Im übertragenen und realen Sinne. Er hat uns still und ohne großen Abschied nach schwerer Krankheit im Mai 2016 im Alter von 67 Jahren verlassen. Ein großartiger Dolmetscher, der uns Vorbild war mit seinem Wissen, seiner Wissbegierde, seinen großen Erfahrungen, seiner Mit-Menschlichkeit und nicht zuletzt seinem kollegialen Verhalten. Wie sehr hat er sich auch immer um die jüngere Generation gekümmert, sie gefördert und – im wahrsten Sinne des Wortes! – unter seine Fittiche genommen! Da wurden wir Dolmetschermädels von ihm auch schon mal mit „Liebelein“ betitelt… und ließen es uns gerne gefallen, weil es einfach zu Rainer gehörte.

Mit Rainer eine Dolmetschkabine zu teilen, war jedes Mal eine Lektion fürs Leben! Kollegen erinnern sich gerne an die Anfänge ihrer Laufbahn, in denen Rainer sie ermutigte, unterstützte und nicht locker ließ, bis der oder die Betreffende ein Bein auf den Dolmetscherboden bekommen hatte. Eine eng mit Rainer befreundete Kollegin erinnert sich an eine ihrer ersten Konferenzen, die sie mit Rainer an ihrer Seite zu bewältigen hatte. Verzweifelt sah sie sich mit der maschinengewehrähnlichen Redegeschwindigkeit einer Referentin konfrontiert und hörte plötzlich Rainers Stimme in ihrem Ohr: „Raffen, raffffffen!“ zischte er ihr zu und erteilte ihr auf diese Weise – en passant – eine dieser Lektionen, die für ein Dolmetscherdasein so unvergesslich, prägend und von unermesslichem Wert sind!

Ein anderer befreundeter Dolmetscher gibt zu, dass er das Handtuch gleich zu Anfang seiner Karriere geworfen hätte, wäre Rainer nicht gewesen. Für diesen Kollegen wurde eine Teppichkonferenz zum Albtraum, da nicht zum angekündigten Thema referiert, sondern stattdessen vom Redner ein detaillierter verbaler Streifzug durch die mittelalterliche Pflanzenfärberei im Mittleren Osten unternommen wurde! Rainer übernahm den Vortrag, für ihn ein genussvoller Spaziergang! Schließlich gehörte zu seinen Steckenpferden die Welt der Pflanzen inklusive der treffsicheren botanischen Benennung aller Spezies!

Auch die Autorin dieses Textes hat er anlässlich eines Vertriebskongresses für pflanzliche Arzneimittel aus einem Vortrag gerettet und nicht nur die erwähnte Botanik, sondern gleich auch die damit verbundenen medizinisch-therapeutischen Zwecke wortgewandt und treffsicher dolmetschend den Zuhörern nahegebracht.

Solche und andere Erlebnisse mit Rainer gibt es zuhauf. An sie zu denken, stimmt traurig, gleichzeitig aber auch froh, weil man auf diese Weise Rainer noch einmal so wie er war vor sich sieht.

Rainer hat uns an Vielem teilhaben lassen. Aus seiner Lebensweise und –art hat er nie einen Hehl gemacht; er teilte uns seine Gedanken und Ansichten mit und war ein unermüdlicher Diskutant. Dies führte dazu, dass bei so mancher Autofahrt mit Rainer auf dem Beifahrersitz auch schon mal Zeitvorgaben und Autobahnabfahrten völlig ignoriert wurden!

Auch über seine Krebserkrankung, die vor ca. 3 Jahren diagnostiziert wurde, hat er uns immer auf dem Laufenden gehalten. Da kam der große „Mediziner“ in ihm heraus und er erklärte uns in allen Phasen seiner Erkrankung und zwischenzeitlichen Erholung, wie es um ihn stand und welche Therapien angesagt waren. So half er uns nicht nur, seine persönlichen Umstände sachlicher zu beurteilen (er wollte kein Mitleid!), sondern auch ihn entsprechend seinem Befinden bei Dolmetschaufträgen einplanen zu können.

Nun ist er nicht mehr da und wir müssen und dürfen von der Erinnerung leben. Wir wünschen dem Dolmetschernachwuchs von heute einen solchen „Rainer“: ältere, erfahrene und geduldige Kollegen, die bereit sind, jüngere Kollegen an die Hand zu nehmen und sie liebevoll und ohne Konkurrenzgedanken an ihren Erfahrungen teilhaben zu lassen. Das war Rainer für viele von uns. Wir vermissen ihn sehr.

Renate Kretz