AIIC-Mitglied Thilo Hatscher hat im Interview mit dem Bauwerk-Magazin über den Berufsalltag als Simultandolmetscher gesprochen. Er dolmetscht in Aufsichtsratssitzungen für das Europäische Patentamt, bei Konferenzen der Internationalen Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen (ILO) und bei vielen anderen Veranstaltungen. Im Interview spricht er über die Arbeit in der Kabine und über die Herausforderungen, zeitgleich zuzuhören und zu übersetzen.
Herr Hatscher, keine internationale Konferenz kommt ohne Simultandolmetscher:innen aus. Trotzdem stehen Sie und Ihre Kolleg:innen selten im Rampenlicht und arbeiten meist im Verborgenen.
T. H.: „Wenn alles richtig läuft, fallen wir gar nicht auf. Am besten ist es, wenn die Leute uns vergessen haben, weil die Kommunikation einfach schön flüssig läuft. Das ist ein wenig wie bei Schwänen: Auf der Oberfläche sieht es elegant aus, wie sie dahingleiten, aber unter der Wasseroberfläche strampeln sie die ganze Zeit mit den Beinen. Bei uns steckt wahnsinnig viel Arbeit und Stress dahinter, aber an der Oberfläche muss es möglichst geschmeidig laufen.“
Simultandolmetschen gilt als einer der stressigsten Jobs überhaupt. Stimmt das?
T. H.: „Es ist ein stressiger Job, man muss in dem Moment funktionieren und sehr schnell Entscheidungen treffen. Wenn man in der Kabine ist, ist man ständig unter Adrenalin. Das ist natürlich auch eine Frage von Routine und Erfahrung. Dass einem im richtigen Moment das richtige Wort einfällt, ist entscheidend. Und wenn Leute sich auf Besprechungen die Bälle gegenseitig schnell zuspielen, darf man nicht hinterherhinken. Da muss das Tempo immer stimmen.“
Was machen Sie, wenn Sie einmal einen Blackout haben oder das passende Wort nicht finden?
T. H.: „Das Wichtigste ist eine gute Vorbereitung. Je besser man sich vorbereitet und je versierter man in einem Fachbereich ist, desto weniger passiert das. Und Dolmetschen ist Teamarbeit, wir sitzen immer mindestens zu zweit in der Kabine und helfen uns gegenseitig. Vier Ohren hören mehr als zwei. Wenn man einmal etwas überhört hat, hat es der Kollege oder die Kollegin gehört und schreibt es schnell auf einen Zettel. Wenn zwei gut ausgebildete Dolmetscher:innen nebeneinandersitzen, findet man eigentlich immer eine Lösung.“
Sie müssen zuhören und gleichzeitig übersetzen. Wie lange können Sie das ohne Pause konzentriert durchhalten?
T. H.: „In der Regel wechselt man sich nach 20 bis 30 Minuten ab. Viel länger schafft man es nicht, weil es so eine extreme Fokussierung ist. Danach würde die Konzentration nachlassen, und man würde irgendwann anfangen, Dinge zu überhören.“
Wenn der Kollege oder die Kollegin übernimmt, müssen Sie in der Kabine bleiben und weiter zuhören, um aushelfen zu können?
T. H.: „Ja, deswegen dolmetschen wir bei sehr langen und anspruchsvollen Veranstaltungen immer zu dritt. Damit man auch mal eine halbe Stunde kurz an die frische Luft und Kaffee trinken gehen kann. Wenn man zu zweit ist, bleibt man in der Kabine. Wenn der oder die andere dolmetscht, kann ich mich schon etwas zurücklehnen, aber ich muss der Rede immer noch folgen. Wir plappern ja nicht nur die Wörter nach, sondern versuchen, das Gemeinte rüberzubringen. Wenn man nach 30 Minuten wieder einsetzt, muss man wissen, worum es geht. Deswegen versuchen wir, auch inhaltlich immer dranzubleiben.“
Dürfen Sie in der Kabine etwas essen und trinken?
T. H.: „Das sind schalldichte Kabinen, die sind relativ klein und die Mikros sind sensibel. Selbst Papierrascheln hört man. Klar müssen wir zwischendurch etwas trinken, aber wir versuchen, so wenig Geräusche wie möglich zu erzeugen. Das wäre sonst nicht angenehm für unsere Zuhörer:innen.“
Arbeiten Sie immer in der Kabine oder sitzen Sie auch zwischen den Gesprächspartner:innen?
T. H.: „Das Kerngeschäft ist das Simultandolmetschen aus der Kabine. Aber es gibt einige Veranstaltungen, bei denen ich konsekutiv dolmetsche. Das heißt, dass wir nicht gleichzeitig reden, sondern erst Notizen machen und danach das Gesagte in der anderen Sprache wiedergeben. Das wird zum Beispiel bei festlichen Anlässen gemacht, wenn wir eine Delegation begleiten. Oder auf einer Bühne mit großem Publikum.“
Konsekutivdolmetschen dauert immer doppelt so lange?
T. H.: „Ja, und die Hälfte der Zeit versteht ein Teil der Zuhörer:innen nichts. Das Simultandolmetschen ist historisch während der Nürnberger Prozesse entstanden. Damals wurde das erste Mal professionell in mehrere Sprachen simultan gedolmetscht. Zuvor wurde immer alles konsekutiv übersetzt. Dadurch haben zum Beispiel damals beim Völkerbund, dem Vorgänger der Vereinten Nationen, die Sitzungen immer unheimlich lange gedauert. Das zeigt, was für eine Errungenschaft das Simultandolmetschen ist, bei dem man auf Knopfdruck eine Sprache auswählt und hört, was aktuell gesprochen wird.“
Sie müssen den Anfang vom Satz schon übersetzt haben, bevor er zu Ende ist. Im Deutschen kommt das Verb aber oft erst ganz am Schluss. Wie machen Sie das?
T. H.: „Das Studium für Simultandolmetschen ist nicht in erster Linie ein sprachliches Studium, sondern man muss zuerst eine Eignungsprüfung machen, bei der festgestellt wird, ob man die Sprache bereits fließend spricht. Das ist Voraussetzung. Im Studium lernt man dann Strategien, um simultan zu dolmetschen. Für das Problem zum Beispiel, dass im Deutschen das Verb oft am Ende kommt, lernen wir, zu antizipieren. Wir versuchen, inhaltlich vorauszudenken: Worauf will der Redner beziehungsweise die Rednerin hinaus? Wie wird der Satz enden? Oft hängt das mit dem Kontext und der Struktur der Rede zusammen. Eine andere wichtige Strategie ist das ,Chunken‘: Wir spalten lange Sätze in kleine Satzteile auf. Je mehr man inhaltlich in einem Thema ist und sich eingearbeitet hat, desto näher kommt man dabei dem, was die Person sagt.“
Sie arbeiten für das Europäische Patentamt, sind aber kein Jurist. Um richtig übersetzen zu können, reichen Fachbegriffe nicht aus, Sie müssen die Inhalte genau verstehen. Wie machen Sie das?
T. H.: „Etwa 50 Prozent meiner Arbeitszeit dolmetsche ich, 50 Prozent gehen für die Vorbereitung drauf – Unterlagen sichten, Akten durcharbeiten, sich in das Thema einlesen. Wir bemühen uns, so viel Vorbereitungsmaterial wie möglich zu bekommen, damit wir uns gut einarbeiten können. Um beim Patentamt dolmetschen zu können, müssen Sie erst eine mehrjährige Einarbeitung durchlaufen und Patentrecht in den drei Sprachen Englisch, Deutsch, Französisch pauken. Viele juristische Wendungen muss man auswendig in den drei Sprachen aufsagen können. Die werden in den Verhandlungen so schnell runtergerattert, da kommt man sonst nicht hinterher, und es kommt ja wirklich auf jedes Detail an. Auch in der eigenen Muttersprache muss ich mich einarbeiten und lerne auch im Deutschen immer wieder neue Wörter kennen.“
Klingt sehr aufwendig.
T. H.: „Ja, aber das ist ja das Interessante und Spannende an unserem Beruf, dass man nicht nur Vokabeln lernt, sondern sich in Inhalte einarbeiten muss und immer wieder neue Dinge liest und hört. Das macht den Job so abwechslungsreich. Ich erhalte immer wieder Aufträge mit ganz anderen Themen, zum Beispiel einen Parteitag, eine Betriebsratssitzung oder eine Werksführung zu dolmetschen. Das ist wirklich breit gefächert. Auch im Alltag hält man sich immer auf dem Laufenden, verfolgt Nachrichten in seinen Arbeitssprachen. Auf dem Weg heute Morgen habe ich zum Beispiel französisches Radio gehört.“
Sind Sie zweisprachig aufgewachsen?
T. H.: „Nein, ich habe ganz normal Englisch und Französisch in der Schule gelernt. Nach der Schule habe ich erst ein Freiwilliges Soziales Jahr in Frankreich absolviert und dann angefangen zu studieren. Ich habe viele Auslandsaufenthalte gemacht und heute reise ich noch viel, schaue, dass ich Kontakt zu Land und Leuten aufrechterhalte.“
Muss man immer in die eigene Muttersprache übersetzen?
T. H.: „Nein. Es gibt Institutionen, bei denen das Vorschrift ist, aber nicht immer. Wir unterscheiden zwischen A-, B- und C-Sprache. Die A-Sprache ist die Mutter- oder Grundsprache. Die B-Sprache ist die aktive Fremdsprache, die man hin und her übersetzt. Ich übersetze vom Englischen ins Deutsche und vom Deutschen ins Englische. Und Französisch ist meine C-Sprache, das heißt, ich übersetze von ihr ins Deutsche.“
Erhalten Sie vorher die Redemanuskripte?
T. H.: „Es gilt immer das gesprochene Wort. Wenn wir also vorher ein Transkript erhalten, dolmetschen wir trotzdem das, was wir hören. Es kann immer sein, dass Redner:innen doch mal einen Satz weglassen oder eine Anekdote oder einen Witz einfügen.“
Haben Sie schon einmal erlebt, dass sich jemand eingemischt und Sie korrigiert hat?
T. H.: „Das kommt sehr selten vor. Meistens erleben wir schon Dankbarkeit und die Leute sind eher beeindruckt davon, dass wir sie zeitgleich dolmetschen. Das viel größere Problem sind technische Schwierigkeiten. Gerade bei Zoom-Konferenzen, wenn Mikros oder Verbindungen schlecht sind, versteht man akustisch nicht immer, was gesagt wurde, zum Beispiel ob es nun „thirty“ oder „thirteen“ war. Um gleichzeitig hören und sprechen zu können, braucht man einen deutlich besseren Ton, als wenn man einfach nur zuhört.“
Auf was können Redner:innen achten, um Ihnen die Arbeit zu erleichtern?
T. H.: „Wenn Redner:innen mich vorher fragen, wie soll ich sprechen, soll ich auf irgendetwas achten, sagen wir immer: Reden Sie ganz natürlich. So, als wären wir nicht dabei.“
Wenn Redner:innen ruppige Bemerkungen machen, ausfallend werden oder Schimpfwörter benutzen, übersetzen Sie die dann eins zu eins?
T. H.: „Das ist immer eine Gratwanderung. Am Ende gilt, wir dolmetschen das gesprochene Wort. Es kommt nicht oft vor, dass ich so etwas erlebe, aber ich würde versuchen, mich zurückzuhalten. Übersetzen ist immer auch kulturell geprägt. Ist ein Schimpfwort im Deutschen mit einem Schimpfwort im Englischen immer vergleichbar? Oder legt man den Redner:innen doch etwas in den Mund, das sie so nicht gesagt haben? Ich würde versuchen, das über die Stimme deutlich zu machen, dass der Ton gerade ruppiger wird. Aber klar, wenn es mal sein muss, müssen wir das auch dolmetschen.“
Haben Sie Lampenfieber?
T. H.: „Ja, es wird weniger, aber es ist immer noch da. Ich denke, so ganz geht es wahrscheinlich nie weg, und so ein positiver Stress ist gut, damit man in der Situation wirklich fokussiert ist. Aber es ist nicht so, dass ich nachts vorher nicht schlafen kann.“
Ist künstliche Intelligenz eine Bedrohung für Ihren Beruf?
T. H.: „Das ist ein riesiges Thema, mit dem sich die Branche beschäftigt, insbesondere die Berufsverbände wie die AIIC. Mir ist nicht bekannt, dass bereits irgendeine wichtige Konferenz von einer KI gedolmetscht werden würde. Wir beschäftigen uns aber viel damit, wie KI in unsere Arbeit integriert werden kann. Es gibt Programme, die nebenherlaufen und Vokabelvorschläge machen oder Zahlen und Aufzählungen auf dem Bildschirm anzeigen. Das kann schon helfen, wenn ein Wort akustisch nicht gut zu hören ist und man einen Bildschirm hat, auf dem es in Echtzeit angezeigt wird.“
KI könnte Ihre Arbeit also erleichtern?
T. H.: „Ich glaube schon, dass KI uns das Leben an bestimmten Punkten leichter machen kann, und ich sehe erst einmal noch keine große Bedrohung. Auch weil wir ja immer versuchen, das Gemeinte rüberzubringen und nicht einfach nur Wörter zu übersetzen. Wir versuchen, uns in den Menschen hineinzuversetzen; was will er oder sie hier eigentlich sagen, auch im kulturellen Kontext. Wenn Redner:innen immer wieder Sätze abbrechen, sich wiederholen, verhaspeln, vielleicht weil sie nervös sind, hören wir zu und fragen uns, was will er oder sie eigentlich ausdrücken. Und dann sagen wir es in einem schönen, runden Satz. Das kann KI, zumindest bisher, noch nicht. Das kann natürlich alles noch kommen. Aber es ist auch angenehmer und schafft mehr Vertrauen, eine natürliche und menschliche Stimme im Ohr zu haben, als wenn man acht Stunden einer Siri-Stimme zuhört.“
Das Interview erschien zuerst im Bauwerk-Magazin (01/2024)
- Die Stimme aus der Kabine: Simultandolmetscher im Interview - 07. August 2024
- 5 Tipps für Redner, die mit Simultandolmetschern arbeiten - 08. Mai 2024